Wir lernen zu sehen, bevor wir geboren werden. Das Leben beginnt im Close-Up; für Säuglinge liegt ein großer Teil der Welt in Unschärfe verborgen. Das Leben endet auch im Close-Up, denn im Alter kehrt die Unschärfe meist zurück. Die Ränder der Existenz sind also weichgezeichnet.
Die Geschichte des modernen Klassikers „Daughters of the Dust“ von Julie Dash hat zwei Erzähler: ein ungeborenes Kind und eine alte Frau. Vergangenheit und Zukunft vereinen ihren Blick zu einer Version der Gegenwart, die weiter reicht, als man es im Kino gewohnt ist. An die Stelle von mechanischer Chronologie und Kausalität tritt ein unscharfes Erzählen. Figuren, Fragen und Erfahrungen aus unterschiedlichen Zeiten werden präsentiert, doch als Teil der erweiterten Gegenwart können sie nicht sofort einer anderen Epoche zugeordnet werden.
„Meine Geschichte beginnt, bevor ich geboren werde“, erklärt eine Stimme. Sie gehört dem Kind von Eli (Adisa Anderson) und Eula (Alva Rogers). Beide sind Mitglieder der großen Peazant-Familie, die als Teil der afroamerikanischen Gullah-Gemeinschaft auf einer Insel vor der Küste der USA leben. Als Nachfahren von Sklaven haben sie allen Grund, auf Distanz zum Festland zu bleiben. Doch der im Eilschritt die Welt erobernden Moderne können sie sich nicht entziehen.
Die Zentren greifen nach der Peripherie. Ein unberührtes Leben ist längst ein eigentümlicher Traum geworden. So entschließen sich die meisten von ihnen, im Jahr 1902 nach Norden zu ziehen. Der Film zeigt den letzten Tag vor der Abreise, das große Abschiedsfest der Familie, mit all den Ritualen, Abschiedsgesten und letzten Widerstandsbewegungen gegen die unaufhaltbare Veränderung.
Erinnerung, Gegenwart und utopische Prophezeiung
Gleichzeitig wird aber auch die gesamte Geschichte der afroamerikanischen Familie präsentiert. Die Matriarchin Nana Peazant (Cora Lee Day) will alte Traditionen lebendig halten, von der ihre lesbische Enkelin Yellow Mary oder die Skeptikerin Haagar, die die Migration nach Norden leitet, kaum noch etwas wissen wollen. Cousin Bilal Muhammad ruft zum muslimischen Gebet, die aufstiegs- und assimilationswillige Viola lebt längst als Christin in Philadelphia. Von dort bringt sie auch den Fotografen Mr. Snead mit, der allein schon mit seiner Kamera alle Fragen nach Erinnern und Vergessen neu stellt.
Die komplexen Vorgeschichten und Beziehungsgeflechte lassen sich nicht intuitiv nachvollziehen, und einige der aufflackernden Ereignisse scheinen zugleich aus einer ganz anderen Zeit zu stammen. Wer sich an diesen Film erinnert, wird wohl nicht die genauen Figurenkonstellationen im Kopf behalten. Er wirkt, als wäre „Daughters of the Dust“ gleichzeitig Erinnerung, Gegenwart und utopische Prophezeiung.
Das Poetische und das Konkrete
Man folgt der Handlung vor allem emotional. Der Film fordert keine Teilnahmslosigkeit ein, sondern einen Blick, der nicht verzweifelt ordnet und zuweist. „Je selbstvergessener der Lauschende, desto tiefer prägt sich ihm das Gehörte ein“, schreibt Walter Benjamin in seinem Text „Der Erzähler“. Den titelgebenden Erzähler beschreibt er so: „Er ist uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes.“
So könnte man auch die Erzählperspektive von „Daughters of the Dust“ beschreiben. Eine Erzählerin des Films ist noch nicht einmal geboren, die andere fällt gerade aus der Zeit. Ein Teil der Dialoge ist in Gullah gehalten, einem vom Englischen ausgehenden Kreolisch, und wird untertitelt. Die Schlüsselfigur für die filmische Form ist der Griot, also der traditionelle Hüter mündlicher Überlieferungen in Teilen Westafrikas. Einer der vielen Monologe beschreibt sein althergebrachtes Handwerk. Als epischer Erzähler gehört die Poesie zu seinen Mitteln. Er vermittelt nicht einfach Informationen, sondern spannt Verbindungen auf.
Die große Schönheit der Kunstform Film liegt oft darin, wie sich das Poetische und das Konkrete die Hand reichen. So ist es auch hier: Menschliche Schattenrisse im Sonnenuntergang, leuchtend rote Äpfel in schwarzen Händen, im Wind wehende Gewänder. Die erweiterte Familie, arrangiert in malerischen Tableaus, als würden sie für ein Gemälde oder ein Foto posieren. Das Filmkorn wirkt wie ein sanfter, sandiger Wind in den Bildern, der Film weht dahin.
Mit fast ethnographischem Blick wird eine historisch einzigartige Kultur im Moment ihres Vergehens beschrieben. Wo 24 Bilder in der Sekunde entstehen und vergehen, kann man gut vom Verschwinden erzählen.
Geteilte Erfahrung
Bereits in einer der ersten Einstellungen rieselt in einer etwas ruckeligen Zeitlupe Sand aus einer Hand und wird vom Wind fortgetragen. Diese Zeitlupen kehren immer wieder und schaffen ein Gefühl von Gegenwart, die nicht vergehen will. Stockend zwischen Stillstand und Bewegung wird der ungewöhnliche Ort in der Zeit klar, den jeder Mensch einnimmt, über den erzählt wird.
Die Regisseurin Julie Dash inszeniert die Insel und ihre Strände so, dass greifbar wird, wie ungemein lebendig und wie wenig abstrakt geteilte Erfahrungen in dieser Kultur waren. Auf der im Dezember 2022 veröffentlichten bfi-Liste nimmt „Daughters of the Dust“ den 60. Platz ein. Auch auf dem „New Black Film Canon“ ist „Daughters of the Dust“ vertreten. Darin bildet sich eine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Film auf kritischer und akademischer Ebene ab. Wir leben heute in einer Welt voller Kanon-Filme, die nur wenige Menschen gesehen haben. Was manchmal als elitäre Distanz zwischen einem akademisch-kritischen Milieu und dem „normalen Publikum“ gewertet wird, ist eigentlich eine endlose Sammlung von Chancen. Der Film-Kanon ist gleichzeitig etwas sehr Konkretes (etwa eine Sammlung von Listen) und etwas Abstraktes (eine geteilte Erfahrung, kollektive Geschichten und Bilder).
In einem Film wie „Daughters of the Dust“ zeigt sich, was ein Kanon im Idealfall sein kann: ein Griot. Eine Stimme, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermittelt und mit vielen disparaten Punkten der Geschichte in Kontakt bringt. Ein Kunstwerk, das verbindet.